Ladislaus Löb
Kasztner Holocaust survivor

Ein Projekt der Gamaraal-Stiftung
Scroll

Das Leben eines Akademikers

Ein jüdischer Germanist

Ich werde oft gefragt, warum ich als Jude und Holocaust-Überlebender ausgerechnet Professor der Germanistik wurde. Diese rhetorische Frage zielt auf eine bedingungslose Verurteilung des Landes, das den Nationalsozialismus hervorbrachte. Wir müssen uns gegen den Terrorismus wehren. Aber wer die Verbrechen der Nazis mit Hass gegen alles Deutsche vergelten will, läuft Gefahr, selbst auf das totalitäre Niveau des Nationalsozialismus zu sinken. Ich glaube, dass wir erst dann in der Lage sein werden, eine Wiederkehr des Nationalsozialismus zu verhindern, wenn wir sowohl die positiven als auch die negativen Seiten der deutschen Kultur erkannt haben. Als Lehrer der deutschen Sprache und Literatur, der in Ungarn geboren wurde und in der Schweiz aufwuchs, glaube ich Einiges zum Verständnis der Dialektik zwischen Kreativität und Destruktivität beitragen zu können, die in der deutschen Geschichte seit Jahrhunderten bald bewundernswerte Leistungen erbringt, bald Katastrophen herbeiführt.

A portrait of me
Bergen-Belsen war nicht das Ende
Wie ein zwölfjähriger Junge das Konzentrationslager überlebte und zu einem angesehenen Universitätsprofessor heranwuchs
1933

8. Mai: Geboren in Cluj. (Rumänien)

Lebt in Marghita (Rumänien)

1940

Anschluss von Siebenbürgen an Ungarn

1942

Mutter stirbt an TB. Ladislaus zieht zu den Grosseltern in Kolozsvár. Besucht das Jüdische Gymnasium

1944

19 März: Hitlers Armee besetzt Ungarn

Mai - Juni: Im Getto von Kolozsvár. Flucht nach Budapest mit Vater. Eintritt in „Kasztner-Gruppe”. Familie ermordet in Auschwitz

9. Juli: Ankunft im Konzentrationslager Bergen-Belsen

7. Dezember: Ankunft in der Schweiz

1945

In Flüchtlingslager in Caux und Jugend-Alijaheim in Bex

Eintritt in Ecole d’Humanité, Schwarzsee und Goldern

1947

Austritt aus Ecole d’Humanité. Besuch in Cluj mit Vater

1948

Eintritt in Realgymnasium Zürich

1952

Matur. Immatrikulation an der Universität Zürich

1961

Promotion zum Dr. phil. und Mittelschullehrer-Diplom.

Lehrer und Journalist in Zürich. Einbürgerung in Zürich

1963

Ernennung zum German Lector, University of Sussex, Brighton

1964

Ernennung zum Lecturer in German, University of Sussex, Brighton

Heiratet Jill Bridges

1966

16. Juni: Tochter Dinah geboren

1967

9. Dezember: Tochter Susannah geboren

1970

Befördert zum Reader in German, University of Sussex, Brighton

Erhält britische Staatsbürgerschaft

1971

Visiting professor, Middlebury College, Vermont, USA

1972

Gastprofessor, Universität Konstanz, Deutschland

1983

Scheidung von erster Frau

1988

Heiratet Sheila Deasey

1998

Ernannt zum Professor of German, University of Sussex,Brighton

2001

Pensionierung als Emeritus Professor of German, University of Sussex, Brighton.

Lehrt und schreibt weiterhin

2008

Veröffentlicht Dealing with Satan. Rezsö Kasztner’s Daring Rescue Mission

2012

Erhält den “Austrian Holocaust Memorial Award“

2017

Nimmt erneut Wohnsitz in Zürich

Ein erfülltes Leben - den Mördern zum Trotz

Man stelle sich ein Kind vor, das vom langen Sterben seiner Tb-kranken Mutter und der Sorge um die unverheilte alte Kriegsverletzung seines Vaters belastet in einer mitteleuropäischen Kleinstadt der 1930er Jahre aufwächst. Man stelle sich die Frustration dieses Kindes vor, wenn es von ungehobelten Strassenlümmeln als „Stinktier“ beschimpft und mit Steinwürfen angegriffen wird oder wenn ein feindseliger neuer Lehrer die bisher immer ausgezeichneten Noten in seinem Primarschulzeugnis mit lauter „ungenügend“ ersetzt.

Man teile mit dem Kind das Gefühl des Ausgestossenseins, wenn es von einem Tag zum anderen nicht mehr im Stadtpark spielen, im Freibad schwimmen oder im Kino die vertrauten Abenteuer von Tarzan oder Popeye wiedersehen darf oder wenn es unsanft aus seinen Träumen von einer Zukunft als Arzt, Anwalt, Fabrikant oder Theaterleiter mit der Warnung geweckt wird, dass ihm das Gesetz solche Berufe verbiete.

Man stelle sich die Scham des Kindes vor, wenn es sich mit einem gelben Stern an seiner Kleidung in der Öffentlichkeit zeigen soll, und seine hilflose Wut, wenn es aus seiner Wohnung ziehen und zulassen muss, dass gierige Nachbarn seine persönlichsten Besitztümer durchstöbern.

Man versuche sodann, den Schock des Kindes nachzufühlen, wenn es mit seiner gesamten Familie von bewaffneten Gendarmen brutal auf einen Lastwagen geladen und in einer zerfallenden Ziegelei, die als Getto dient, eingesperrt wird.

Schließlich male man sich aus, wie der Vater das Kind bei der Hand nimmt und beide aus dem Getto fliehen, während ihre Nächsten in ein Konzentrationslager namens Auschwitz deportiert und vergast werden.

Von Auschwitz wird das Kind allerdings erst später hören, nachdem es selbst fünf qualvolle Monate im Lager Bergen-Belsen verbracht hat. Bergen-Belsen galt als eines der schlimmsten deutschen Lager, weil dort in den letzten Monaten des zweiten Weltkriegs 50‘000 Männer, Frauen und Kinder an totaler Verwahrlosung starben.

Es ist kaum zu glauben, dass das Kind fast als Einziges in seiner Generation die Torturen von Bergen-Belsen überleben konnte. Wer nicht an übernatürliche Kräfte glaubt, wird diese Rettung wohl drei durchaus menschlichen Faktoren zuschreiben: der Opferbereitschaft des Vaters, der fast verhungerte, damit das Kind genug zu essen bekam; der Diplomatie eines jüdischen Zionisten namens Rezsö Kasztner, der das Kind mit einer Gruppe Geiseln von Adolf Eichmann, dem „Architekt des Holocaust“, freikaufte; und dem Sinneswandel der Schweizer Regierung, die gegen Ende des Krieges das Kind und seinen Vater nebst einigen Tausend anderen Flüchtlingen in ihrem Land aufnahm, nachdem sie Zehntausende in ihre Ursprungsländer zurückgeschickt hatte, wo sie in deutschen Händen starben.

Es würde niemand wundern, wenn dieses Kind nach solchen Erfahrungen ein verbitterter, furchtsamer, wehleidiger Einzelgänger geworden wäre. Das Überraschende ist aber, dass es inzwischen ein geachteter Sprach- und Literaturwissenschaftler geworden ist und viel Freude an seiner Frau und zwei Töchtern hat. Und hier muss ich endlich bekennen, dass es sich bei dem Kind und dem Erstatter dieses Berichts um mich selbst handelt.

Es ist allgemein bekannt, dass überlebende Eltern und Kinder wohl aus Angst vor quälenden Erinnerungen selten miteinander über das gemeinsame Erlebnis des Holocaust reden. So war es auch bei meinem Vater und mir. Nach unserer Ankunft in der Schweiz hörten wir bald auf, unsere ermordeten Verwandten zu suchen und konzentrierten uns auf die Probleme des Tages. Mein Vater knüpfte berufliche Kontakte an, und ich besuchte eine Reihe Schulen, in denen ich kaum mehr an den Holocaust dachte.

Aber diese Verdrängung musste einmal ein Ende nehmen. Wenn ich nicht von Alpträumen oder Angstanfällen heimgesucht wurde, nahm mir das Gefühl einer inneren Leere, einer unerfüllten Aufgabe, einer versäumten Pflicht die Ruhe. Es wurde mir allmählich klar, dass ich mich zu meinem Volk bekennen und seine Freuden und Leiden teilen musste, um ich selbst zu werden.

Ich begann die Geschichte des Holocaust und des Nationalsozialismus zu studieren und entdeckte eine Ideologie, der die Lüge als Wahrheit, die Feigheit als Mut, die Sklaverei als Freiheit, das Perverse als Norm und die Unmenschlichkeit als Tugend galt; eine Mentalität, die den Hass, die Aggression und die Zerstörung verherrlichte; eine Weltanschauung, die durchweg aus antisemitischen Vorurteilen bestand und deren höchstes Ziel die Vernichtung aller Juden war. Ich versuchte, mich gegen die Angst und den Ekel vor den Nazis zu wehren, indem ich ihre heroischen Posen der nüchternen Wirklichkeit gegenüberstellte.

Ich stellte mir einen archetypischen Nazi vor, der mir nach dem Leben trachtete. Dieser Nazi verfolgte mich durch die Jahre und hoffte unablässig, meinem Untergang beizuwohnen. Aber es kam anders.

Wenn ich im hohen Alter auf mein Leben zurückblicke, wiederholt sich ein Muster, nach dem jeder meiner grösseren oder kleineren Erfolge diesem Nazi sein eigenes Versagen wie eine Ohrfeige vor Augen führte. Ob ich an der Universität Zürich die Doktorprüfung bestand oder an der University of Sussex auf der Stufenleiter des Lehrpersonals höher stieg, musste er neidisch zusehen, ohne eingreifen zu können. Wenn meine Vorlesungen und Seminare sich zunehmender Beliebtheit erfreuten, konnte er nur schweigen. Je mehr Beachtung meine wissenschaftlichen Aufsätze erhielten, umso weniger wurden seine Verrisse zur Kenntnis genommen. Die glücklichen Stunden mit meiner Frau und Kindern konnte er mir ebenso wenig rauben wie die anregenden Begegnungen mit meinen Freunden. Meiner Gesundheit konnte er mit all seinem Gift nichts anhaben.

Der Nazi, der meinen Untergang herbeiwünschte, steckte eine schallende Niederlage nach der anderen ein und musste schliesslich unverrichteter Dinge das Feld räumen. Für mich dagegen löste sich jedes praktische Problem fast automatisch, sobald es in meinem Gesichtsfeld auftauchte. Es schien, als ob die blosse Anwesenheit des Lebens alles Falsche vernichtete und alles Echte förderte. Der Nazi konnte tun, was er wollte, ich lebte weiter, wie viele andere Juden auch: die kreativen Kräfte blieben weiterhin auf unserer Seite. Mir hatte das Schicksal ein Leben als Waffe gegeben, mit der ich mich gegen meine Todfeinde verteidigen, wenn nicht sogar siegen konnte. Um zu zeigen, was ich mit einem Menschenleben als Waffe meine, setzte ich mich an meinen Computer und schrieb meine Lebensgeschichte wie folgt nieder.